Mittwoch, 21. März 2018

Buchrezension: Steven Uhly - Marie


Inhalt: 

Der zwölfjährige Frido erzählt seiner kleinen Schwester Chiara eine aufwühlende Gutenachtgeschichte. Sie handelt von einem alten Mann, der ein Baby stiehlt. Als Chiara kurz darauf ihrer Mutter davon erzählt, reagiert diese schockiert. Im Affekt schlägt sie ihre Tochter. Von diesem Moment an gerät die kleine Familie aus dem Gleichgewicht. Veronika Kelber reibt sich auf zwischen ihrem Leben als Alleinerziehende und dem Anspruch, eine gute Mutter zu sein. Und dann ist da noch der Schmerz einer unsichtbaren Wunde, Schuldgefühle und die Erinnerung an ein furchtbares Versagen.

Rezension:

Veronika Kelber ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, dem 12-jährigen Frido, der zehnjährigen Mira und der sechsjährigen Chiara. Ihr Mann hat die Familie wegen einer anderen Frau verlassen, als sie mit Chiara schwanger war. 

Veronika ist als berufstätige Frau mit der Situation in der 65-qm-Wohnung und der Verantwortung, die auf ihr lastet, völlig überfordert. Frido ist jetzt der "Mann im Haus" und derjenige, der sich um seine jüngeren Schwestern kümmert. Chiara erzählt er eine Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruhen soll. Er habe sie in der Zeitung gelesen. Es geht um einen älteren Mann, den Besitzer des Kiosk auf dem Weg zu seiner Schule, der ein Baby gestohlen haben soll. Chiara ist gebannt von der Geschichte und entsetzt und stellt immer mehr Fragen, bis auch die Mutter die Geschichte hört und ausrastet. 

"Marie" erzählt die Geschichte von "Glückskind" weiter, kann aber unabhängig von diesem Roman gelesen werden. Er ist eine Familientragödie, in welcher das Versagen der Eltern in aller Deutlichkeit aufgezeigt wird. Die Mutter schafft es kaum, den Kindern regelmäßig das Abendessen zuzubereiten, geschweige denn, dass sie ihnen Liebe und Geborgenheit vermittelt. Sie ist zwar in der Wohnung anwesend, aber nicht für die Kinder da, weshalb der älteste Frido ganz selbstverständlich die Aufgaben der Mutter übernimmt, so gut er kann. 

Der Vater hält sich dagegen aus allem heraus und beschränkt sein Engagement auf die Unterhaltszahlungen, die ihm auch zu viel sind. Notgedrungen holt er die Kinder an einzelnen Wochenenden zu sich, wobei er immer nur zwei Kinder bei sich haben möchte und sich für die umgänglicheren beiden, Frido und Chiara, entscheidet. Veronika lenkt sich in der Zeit mit Alkohol und One-Night-Stands ab. 

Die Perspektiven werden schnell gewechselt, so dass man Einblick in die Sichtweise der Mutter, aber vor allem auch in die der Kinder auf ihrem unterschiedlichen Wissensstand erhält. Fassungslos betrachtet man als Leser diese schier ausweglose Situation und leidet mit den Kindern, die keine regelmäßigen Mahlzeiten erhalten und auf sich allein gestellt sind und trotzdem noch brav ihre Hausaufgaben erledigen und zur Schule gehen. Krampfhaft versuchen sie, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten, um eine Mutter zu schützen, die ihnen so wenig Liebe schenkt. 

Man fragt sich, was in der Vergangenheit, von der man nur Bruchstücke erfährt, vorgefallen ist, und wie Ereignisse mit der Geschichte, die Frido erzählt hat und deshalb von einem schlechten Gewissen geplagt ist, in Zusammenhang stehen. Etwas Schreckliches wurde über die Jahre totgeschwiegen und kocht jetzt wieder hoch, woran die Mutter endgültig zu zerbrechen scheint. Man muss zwischen den Zeilen lesen können, da vieles nur angedeutet, nicht aber explizit geschildert wird. 

Es ist eine schockierende, einfühlsam erzählte Geschichte über eine Familie, die sich selbst überlassen ist und bei der es erst zur finalen Katastrophe kommen muss, bis Hilfe geleistet wird. Fassungslos ist man bis zum Schluss von der Handlung gefesselt und muss einfach weiterlesen, wie die Kinder den Alltag auf sich gestellt bewältigen. 
Besonders erschütternd an der Geschichte ist, dass sie so authentisch anmutet und dass sich solche Familientragödien tagtäglich hinter verschlossen Türen ereignen. 

Da ich selbst "Glückskind" nicht gelesen habe, hätte ich mir gewünscht, wenn man als Leser zumindest im Epilog oder einem Nachwort noch mehr über die Vergangenheit erfahren hätte, um die aktuellen Ereignisse besser einordnen zu können. 



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