Freitag, 16. März 2018

Buchrezension: Anne Reinecke - Leinsee


Inhalt: 

Karl ist noch nicht einmal 30 und hat sich schon als Künstler in Berlin einen Namen gemacht. Er ist der Sohn von August und Ada Stiegenhauer, "dem" Glamourpaar der deutschen Kunstszene. Doch in der symbiotischen Beziehung seiner Eltern war kein Platz für ein Kind. Nun ist der Vater tot, die Mutter schwer erkrankt. Karls Kosmos beginnt zu schwanken und steht plötzlich still. Die einzige Konstante ist ausgerechnet das kleine Mädchen Tanja, das ihn mit kindlicher Unbekümmertheit zurück ins Leben lockt. Und es beginnt ein Roman, wild wie ein Gewitter, zart wie ein Hauch.

Rezension:

Karl ist der Sohn des sehr erfolgreichen Künstlerehepaares Stiegenhauer, der seit Jahren keinen persönlichen Kontakt mehr zu seinen Eltern hatte. Als sich sein Vater August im Alter von 57 Jahren tötet, weil die geliebte Ehefrau Ada unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt ist, kehrt Karl an seinen Geburtsort Leinsee zurück. Er empfindet keine Trauer für den Tod seines Vaters und bringt die Beerdigung hinter sich, bei der Karl, der in Berlin unter anderem Namen als Künstler arbeitet, erstmals von der Presse als Sohn der Stiegenhauers identifiziert wird. Durch die Berühmtheit seiner Eltern steigt auch sein Marktwert als Künstler, was Karl nie wollte. Er geht nicht zur Eröffnung seine Ausstellung in Berlin und bleibt in Leinsee, um den Tod seiner Mutter abzuwarten, die nach einer Notoperation am Gehirn im Koma liegt. 

Entgegen der Erwartung der Ärzte über lebt Ada, erwacht aus dem Koma und erkennt in Karl ihren Ehemann August wieder. Zum ersten Mal erfährt Karl Wertschätzung durch seine Mutter und wird von ihr geliebt. Er genießt diese seltsame Beziehung zu ihr, kümmert sich um sie und arbeitet sogar im Atelier der Eltern mit ihr zusammen. 

Im Garten der Villa taucht immer wieder in achtjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft auf. Tanja, die im Gegensatz zu den anderen Kindern keine Angst vor Karl hat. Sie beginnen damit, sich gegenseitig kleine Geschenke zu machen, indem sie den Kirschbaum dekorieren oder den Garten mit kleinen Handgriffen umgestalten. 

Als seine Lebensgefährtin Mara, die überraschend aus Berlin anreist, Tanja vertreibt, hält auch Karl nichts mehr in Leinsee. Er kehrt nach Berlin zurück, wo er von Mara getrennt, in einem Atelier am Tempelhofer Feld arbeitet und wohnt. 

Erst sechs Jahre später geht er nach Leinsee zurück, wo Tanja inzwischen ein Teenager geworden ist. Sie verzeiht Karl und so entwickelt sich ihre ungewöhniche Freundschaft weiter. 

Karl ist ein verschlossener Mensch, der von seinen Eltern, die ihn als Kind in einem Internat untergebracht haben, wo sie ihn nie besucht haben, schwer enttäuscht ist. Für Ada und August gab es immer nur die beiden als Paar, für ein Kind war kein Platz. Karl wollte nie im Schatten seiner Eltern stehen und hat sich deshalb unter Pseudonym einen Namen als Künstler erarbeitet. Zurück in Leinsee kommt all der Frust über seine Eltern wieder hoch, zumal sie einen Assistenten beschäftigen, der sich wie selbstverständlich in Karls Kinderzimmer eingerichtet hat. Karl hat nachvollziehbarerweise einen Hass auf diesen "Buddy Holly", der die Rolle des Sohnes übernommen hat. 

Ablenkung und Leichtigkeit erfährt Karl durch Tanja, zu der er als 26-jähriger Mann unnatürlich intensive Gefühle entwickelt. Tanja ist ein Symbol für Mut und Unbeschwertheit, was Karl in seiner Kindheit fehlte. Er ist regelrecht fixiert auf sie, hofft jeden Tag aufs Neue, dass sie sich zeigt. 

Der Roman handelt nicht nur von einer Künstlerfamilie, sondern ist auch passend dazu aufgebaut. Jedes Kapitel hat eine farbengebende Überschrift wie "Kanarienvogelgelb und silber", "Gottweiß", "Salamirot" oder "Kaugummigrau" und steht für Karls Gefühlswelt. 

"Leinsee" ist ein außergewöhnlicher Roman, der mal melancholisch, mal wütend, mal traurig ist, der mich aber auch verwirrt und nachdenklich gemacht hat . Sehr skurril sind Karls Verhaltensweisen in der Villa der Eltern und seine Annäherung an das Kind, die einem Versteckspiel gleicht, die mehr als merkwürdig, schon fast grenzwertig ist. 

Die Heimkehr nach Leinsee wird für Karl zu einem Neuanfang. Beschrieben wird die Persönlichkeitsentwicklung von Karl von 2005 bis zur Gegenwart, in der Karl parallel zu Tanja erwachsen wird. 
Es ist ein Roman über Selbstfindung und eine Liebesgeschichte außerhalb der Norm mit überraschenden Wendungen. Er hat durch die sonderbaren Einfälle von Karl, die er nie in Frage stellt, oder gar sich selbst reflektiert, einen hohen Unterhaltungswert. 



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